Prof. Sellmanns Rede am Tag der Jugendpastoral

zap:direktor Prof. Dr. Matthias Sellmann hat zum „Tag der Jugendpastoral“ am 22. März 2025 in Osnabrück einen Beitrag verfasst. Dieses Video ist auf dem Marktplatz der Stadt ausgestrahlt worden. Sie finden hier die Text- und Videoversion. Prof. Sellmann betonte in seiner Rede, dass die Jugendpastoral gefördert werden muss und Verantwortlichen in der Kirche finanziell umsteuern müssen. Hier nun die Textversion, am Ende finden Interessierte die Videofassung.

„Sehr geehrte Damen und Herren, vor allem: Sehr geehrte Jüngere, die Sie sich heute an einem freien Samstag in Osnabrück öffentlich in der Stadtgesellschaft bemerkbar machen. Was Sie alle vereint – und ich zähle mich dazu, auch wenn ich nur digital anwesend sein kann – ist die Überzeugung, dass eine gute moderne Gesellschaft auch eine gute moderne Kirche verdient und braucht.  

Sie zeigen sich öffentlich an der Seite einer sehr unpopulär gewordenen Organisation, sie zeigen sich als Sympathisant:innen eines schwächelnden Riesen, sie sind wie Anhänger:innen eines Fußballvereins, der gerade von Liga zur Liga nach unten gereicht wird. Und Sie bleiben! Und sie tun das als Jüngere und sie tun das unverhohlen öffentlich. Schon das ist sehr bemerkenswert und sollte von uns Älteren sehr sensibel registriert werden. Die Kirchenkrise ist enorm, sie ist uns allen wohlbekannt, und sie bedrängt uns. Es geht um die Konsequenzen, die wir aus dieser Sorge ziehen. Und da spüren wir alle: Wir können uns da keinen Schlingerkurs mehr leisten. Das Gießkannenprinzip ist nur ein Prinzip bei vollen Kassen. Die aber gibt es nicht mehr. Darum braucht es inhaltliche, strategische Entscheidungen. Wo soll hauptamtlich geförderte Kirche in Zukunft stärker sein, wo weniger? Hierzu braucht es gute Debatten, Bereitschaft zum Sparen bei allen, transparente Entscheidungen und dann klare Umbauten in diese tragfähige Kirche der Zukunft.

Sie  haben öffentlich erklärt, dass Sie diese Bereitschaft zum Sparen haben. Aber zum Sparen mit Augenmaß. Das empfinde ich als sehr guten und auch klugen politischen Stil. Was kann nun ein Beitrag der Pastoraltheologie hier einbringen? Ich weiß, dass Sie nicht von mir erwarten, meine Kompetenzgrenzen zu überschreiten und mich in bistumspolitische Fragen einzubringen. Was ich aber gerne tun möchte, ist diese eben gestellte Frage mit einer Antwort weiterzuverfolgen: Was könnte so ein Kriterium sein, an dem man Sparprozesse heute orientieren sollte?

Ich biete Ihnen hier folgende Antwortempfehlung an: Kirchliches Handeln und damit eben auch Sparprozesse müssen heute als erstes die Priorität verfolgen, wie die Bürger:innen in Deutschland wieder Vertrauen zur Kirche fassen können.   

Denn der Kern der Krise kirchlicher Arbeit ist der völlige Verlust an öffentlichem Vertrauen. Ich habe hier die Auswertungen der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung 6 der Evangelischen Kirche in Deutschland, an der erstmals auch die Katholische Kirche teilgenommen hat und die darüber hinaus sogar repräsentativ für die Gesamtbevölkerung in Deutschland ist. Liebe Menschen in Osnabrück – jeder und jedem, dem Kirche etwas bedeutet, wird angesichts dieser Befunde aufgeschreckt. Nehmen wir die Werte zum Vertrauen: Die KMU VI arbeitet mit einer Skala von 1 (überhaupt kein Vertrauen) bis 7 (sehr großes Vertrauen).  Für die ‚Evangelische Kirche‘ ergibt sich ein Wert von 3,3, für die ‚Katholische Kirche‘ ein Wert von 2,3. Dieser letztgenannte Wert ist mit dem ‚Islam‘ (2,1) der geringste.2,3 im Vertrauenswert: Das bedeutet schon mal im Klartext, dass die katholische Kirche nicht nur wenig Vertrauen genießt, sondern dass man ihr offen misstraut. Guckt man nun näher hin auf alle Katholiken, geht der Wert auch nur auf 3,3; schaut man auf die Hochaktiven und Loyalen, sind wir bei 4,5. Das klingt schon versöhnlicher. Aber erstens sind wir hier überhaupt erstmals über dem Mittelwert. Und, das hilft beim Vergleich: Selbst diese loyalen und aktiven Katholiken haben ein geringeres Vertrauen in ihre Kirche als distanzierte Mitglieder zu ihrer evangelischen Kirche. Das sind historische Tiefstwerte. Wir müssen uns durch solche Zahlen wirklich aufscheuchen lassen. Denn was ist ein Maler ohne Farbe? Was ist ein Surfer ohne Board? Was ist ein Osnabrücker Marktplatz am Samstag ohne Leute? Das ist eine Kirche ohne Vertrauen.

Ohne grundsätzliches Vorschussvertrauen kann eine Kirche keine seelsorglichen Gespräche führen; kann man keine Gottesdienste feiern; hört einem niemand mehr zu; lernt man nichts von anderen; kann man keine Ehrenamtler:innen gewinnen; kann man keine Bündnisse schließen, etwa mit Krankenhäusern, Schulen, Parteien oder der Polizei; wird man keine Exerzitienhäuser vollkriegen; bekommt man keine gute Presse. Man kann nicht auf Gott hinweisen, wenn man kein Vertrauen genießt. Die über allem stehende Frage bei Zukunftsentscheidungen und Sparprozessen muss daher sein, wie man sich das Vertrauen der Leute wieder zurückverdient. Auch hierzu macht die KMU 6 nun klare Ansagen. Man kann ihr ein Programm mit 8 Maßnahmen zum Vertrauensaufbau entnehmen. Ich werde das ganz kurz entfalten. Man wird sehen: Es sind Orte wie die Jugendbildungsstätten, die man für dieses 8-Punkte-Programm dringend benötigt.  

  • Kirchlich geprägte Personen haben generell ein höheres Vertrauen in Mitmenschen und in die Gesellschaft als Ganzer als nicht-kirchlich geprägte Personen. Ich brauche angesichts des enormen Rechtsrucks in unserer Gegenwart nicht betonen, wie unglaublich bedeutend diese Leistung ist. Kirchen befähigen Menschen dazu, Vertrauen zu wagen und Vertrauen zu geben.
  • Vertrauen hat mit besserer Führung zu tun. Die Analyse der KMU ist deutlich, dass die Kirche erheblich stärker in  die Führungskompetenzen ihrer Leader investieren muss. Diese Kompetenzen müssen sich mit dem messen lassen, was man auch außerhalb der Kirche als ‚gute Führung‘ ansieht.
  • Vertrauen wird man aufbauen, wenn man Reformen einleitet. Die Leute registrieren sehr sensibel, dass Kirche von den allgemeinen Standards gesellschaftlicher Normen abweicht. Fragt man allgemeine Reformen ab, sind die Werte auch bei den Kirchlich-Religiösen sämtlich über 80%. Über 80, teilweise über 90% sind dafür, dass man queere Partnerschaften nicht mehr anders behandelt als heterosexuelle, dass man Führungspersonal in der Kirche demokratischer auswählt, dass Priester ihre Lebensform selber auswählen können usw. Über 80%!
  • Dann aber wird klar: Die Erfüllung von Reformerwartungen wird noch kein neues Vertrauen aufbauen. Ohne Reformen geht gar nichts; aber das wird als Hausaufgabe gesehen, die jeder abzuleisten hat. Es braucht deutlich mehr als innerkirchliche Reform.
  • Eine Kirche bekommt da Vertrauen, wo man erkennbar ins Risiko geht. Da, wo Leute eine Kirche erleben, die nicht ängstlich ihren Selbsterhalt besorgen, sondern sich für neue und gemeinsame Problemlösungen einsetzen, da steigen die Vertrauenswerte.
  • Vertrauen baut man auf, wenn man Kompetenzerwartungen erfüllt. Es geht nicht um schöne Worte oder symbolische Taten. Die Leute sind sensibel für die Frage, ob die Kirche mit an einer Gesellschaft baut, in der man auch zukünftig in guter Weise miteinander umgeht.
  • Vertrauen braucht man vor allem von jungen Leuten. Das ist nun wirklich kein Geheimnis: Junge Leute können ihr Leben, ihre Fragen und Erwartungen immer weniger über Kirche ausdrücken und bearbeiten. Und umgekehrt brauchen junge Leute in besonderer Weise die Förderung der Älteren, um die Sachen hier auf ihre Schultern nehmen zu können. 
  • Die Leistungserwartung wird da erfüllt, wo man mit am Gemeinwohl arbeitet. Kirche soll vor allem die soziale Qualität erhöhen. Sie soll für Gerechtigkeit sorgen; sie soll die zivilgesellschaftliche Kreativität befeuern; sie soll die Mitte und das Miteinander stärken; sie soll die informellen Solidaritätsnetzwerke stützen; sie soll die Demokratie inspirieren; sie soll Engagementgelegenheiten schaffen. Und dies alles soll sie als Ausdruck ihres Verständnisses von Nächsten- und Gottesliebe erkennbar machen.

Liebe Menschen in Osnabrück – wenn das alles stimmt, können wir zusammenfassen.

  • Die Kirchen müssen wieder Vertrauen einwerben.
  • Wir haben achtfach gehört, was signalisiert werden muss, um dieses Vertrauen neu einzuwerben.
  • Es geht also bei Ressourcenentscheidungen nun darum, wo Kirche Orte hat, an denen man lernt, wie diese acht Signale gesendet werden können.

Hier kommt die Jugendpastoral und kommen die Jugendbildungsstätten in Sicht – übrigens auch die, die nicht in kirchlicher Trägerschaft arbeiten. Hier arbeitet man am wichtigsten Treibstoff von funktionierenden Demokratien, nämlich am gesamtgesellschaftlichen Urvertrauen. Hier befähigt man Personen zur aktiven Umsetzung dieses Vertrauens. Hier arbeitet man an künftigen Führungskräften. Hier lebt man bereits Reformen. Hier erfüllt man Kompetenzerwartungen. Hier wird Kirche als zivilgesellschaftliche Playerin und Partnerin erkennbar. Hier investiert man in junge Leute. Hier geht Kirche erkennbar über sich hinaus. Hier lernt man, was die ganze Gesellschaft braucht, nicht nur die Kirche selbst. Es geht bei Sparprozessen also darum, ins Risiko zu gehen und künftig solche Orte stärker zu fördern, die tatkräftig am achtfachen Vertrauensaufbau arbeiten.

Ich möchte mich hier pastoraltheologisch gar nicht an der Frage wegducken, woher das Geld kommen soll. In der Tat bin ich der Meinung, dass es eben nicht primär die territorialen Orte sind, an denen dieser Vertrauensaufbau im Blick ist. Nichts gegen Gemeinden und Verbände vor Ort, wirklich nicht – es ist ebenfalls überaus wertvoll, was hier an Engagement erfolgt. Aber: Es ist eben keine konsistente Arbeit am neuen Vertrauensaufbau, wenn teilweise bis zu 70% aller Fördermittel in Gemeinden investiert werden, die teilweise nur noch von etwa 5% der Personen wirklich genutzt werden. Auch die territoriale Arbeit muss erkennbarer gemäß der acht Maßnahmen zum Vertrauensaufbau umgebaut werden. Mit Ihnen plädiere ich für die Bereitschaft zum Risiko, zum finanziellen Umsteuern. Ich plädiere für die Förderung von Jugendpastoral und Jugendbildungsstätten. Denn hier lernt man und hier sieht man eine Kirche, die wieder Vertrauen genießt, weil sie für alle arbeitet und allen nützt.“

Die Rede nun als Video: